Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen
Der Begriff des Gottesdienstes im Islam
von Ahmad von Denffer
Der Begriff des Gottesdienstes im Islam wird von vielen Menschen einschließlich manchen Muslimen missverstanden. Unter Gottesdienst wird gewöhnlich das Verrichten von rituellen Handlungen verstanden wie Salah (Gebet), Zakat (Entrichten des Pflichtanteils, der u.a. den Armen vom Besitz der Wohlhabenden zusteht), Sijam (Fasten während des Monats Ramadan tagsüber) usw. Diese begrenzte Vorstellung vom Gottesdienst erfasst nur einen Teil seiner Bedeutung im Islam, während seine überlieferte Definition umfassend ist. Sie schließt geradezu alle Handlungen eines Muslims ein. Die Definition lautet manchmal wie folgt: „Gottesdienst ist alles, was man zu Allahs Wohlgefallen sagt oder tut.“ Dies umfasst natürlich sowohl Rituale als auch die Glaubenshaltung, soziale Handlungen und persönliche Beiträge zum Wohl der Mitmenschen. Der Islam betrachtet den Menschen als Ganzes. Er befiehlt dem Einzelnen, sich Allah vollkommen zu unterwerfen, wie Allah im Koran den Propheten Muhammad (s) anweist:
Sag (Muhammad): Ja, mein Gebet und mein Opfern und mein Leben und mein Sterben sind für Allah, den Herrn der Welten, Er hat keinen Mitgott, und dies wurde mir aufgetragen, und ich bin der erste der friedenmachend Ergebenen (Muslime). (6:162-163)
Das natürliche Ergebnis dieser Unterwerfung ist, dass alle Handlungen eines Menschen mit den Anweisungen von demjenigen, dem der Mensch unterworfen ist, übereinstimmen. Da der Islam eine Lebensweise ist, verlangt er von seinen Anhängern, dass sie ihr Leben in jeder Hinsicht, sei es in religiöser oder in irgendeiner anderen Hinsicht, gemäß seinen Lehren gestalten. Dies mag für manche Leute fremd klingen, die denken, dass Religion, als eine persönliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, keinen Einfluss auf die Handlungen des Individuums außerhalb der Rituale habe.
Tatsache ist, dass der Islam nicht viel von bloßen Ritualen hält, wenn sie mechanisch verrichtet werden und keinen Einfluss auf das innere Leben des Menschen haben. Gott spricht die Gläubigen und ihre Nachbarn von den Leuten der Schrift (die Juden und die Christen), die sich mit ihnen über die Änderung der qiblah (der Gebetsrichtung) auseinandergesetzt haben, in den folgenden Koranvers an:
Die Frömmigkeit ist nicht, dass ihr eure Gesichter nach dem Osten und dem Westen kehrt, sondern die Frömmigkeit hat, wer an Allah glaubt und an den Letzten Tag und die Engel und die Schrift und die Propheten und sein Vermögensgut aus Liebe zu ihm den Angehörigen gibt und den Waisen und den Armen und dem “Sohn des Weges” (Reisenden) und den Bettlern und für die Unfreien (Sklaven), und wer das Gebet einrichtet und die Zakat-Steuer gibt und die ihre Abmachungen halten, wenn sie Abmachungen getroffen haben, und die geduldig Ausharrenden im Elend und im Leid und beim Unglück, diese sind es, die wahrhaft sind, diese sind es, sie sind die Gottesfürchtigen. (2:177)
Die Handlungen im obigen Vers sind Handlungen der Rechtschaffenheit und sie sind nur ein Teil des Gottesdienstes. Der Prophet Muhammad (s) berichtete über den Glauben, der die Grundlage des Gottesdienstes ist, dass er
„aus über sechzig Zweigen besteht: der Höchste von ihnen ist der Glaube an die Einheit Allahs, d.h. es gibt keinen Gott außer Allah, und die unterste auf der Skala des Gottesdienstes ist die Beseitigung eines Hindernisses vom Weg."
Sittsames Werk wird im Islam als eine Art Gottesdienst betrachtet. Der Prophet Muhammad (s) sagte: „Wer sich bei Einbruch der Nacht müde von seiner Arbeit findet, dem wird Gott seine Sünden vergeben.“
Das Aneignen von Wissen ist eine der höchsten Arten des Gottesdienstes. Der Prophet Muhammad (s) sagte seinen Gefährten: „Das Streben nach Wissen ist eine (religiöse) Pflicht eines jeden Muslim." In einem anderen Wort sagte er: “Streben nach Wissen für die Dauer einer Stunde ist besser als siebzig Jahre beten." Soziale Höflichkeit und Zusammenarbeit sind Teil des Gottesdienstes, wenn sie um Allahs Willen getan werden, wie es der Prophet Muhammad (s) ausdrückte: “Das Anlächeln deines Bruders (im Islam) ist eine milde Gabe, das Helfen eines Menschen, sein Tier zu beladen ist eine milde Gabe, und etwas Wasser in den Schöpfeimer deines Nachbarn zu geben ist eine milde Gabe."
Es ist wichtig zu erwähnen, dass sogar die Erfüllung der Pflichten als Gottesdienst angesehen wird. Der Prophet Muhammad (s) sagte, dass was man auch immer für seine Familie ausgibt, eine Art milde Gabe ist; man wird für sie belohnt, wenn man sie durch islamisch legale Mittel erwarb. Die Güte den Mitgliedern der Familie gegenüber ist ein Akt des Gottesdienstes; wenn man z.B. seiner Gemahlin ein Stück Nahrung in den Mund steckt, ist das, wie der Prophet Muhammad (s) berichtete, ein Akt des Gottesdienstes. Und nicht nur das, sondern auch die Handlungen, die wir genießen, wenn sie entsprechend den Anweisungen des Propheten Muhammad (s) verrichtet werden, werden als Handlungen des Gottesdienstes angesehen. Der Prophet Muhammad (s) sagte seinen Gefährten, dass sie sogar für den sexuellen Verkehr mit ihren Ehefrauen belohnt werden. Die Gefährten waren erstaunt und fragten: „Wie könnten wir belohnt werden für etwas, was wir genießen?" Der Prophet fragte sie: „Angenommen ihr würdet eure Gelüste illegal befriedigen, würdet ihr dafür nicht bestraft?" Sie antworteten: “Ja". “Genauso", sagte er, “werdet ihr dafür belohnt, wenn ihr sie legal mit euren Ehefrauen befriedigt." Die Belohnung für diesen Akt bedeutet, dass er eine Handlung des Gottesdienstes ist. Der Islam betrachtet den Sexualverkehr nicht als eine schmutzige Handlung, die man meiden soll. Er ist dann schmutzig und eine Sünde, wenn er außerhalb des ehelichen Lebens geschieht.
Aus dem oben Ausgeführten wird deutlich, dass der Begriff des Gottesdienstes im Islam ein umfassender Begriff ist, der alle positiven Handlungen eines Individuums einbezieht. Dies stimmt natürlich mit der alles einschließenden Natur des Islam als einer Lebensweise überein. Er reguliert das Leben des Menschen in politischer und geistiger Hinsicht. Deshalb gibt der Islam Rechtleitung auch für kleine Details im Leben eines Menschen auf allen Ebenen. Die Befolgung dieser Einzelheiten bedeutet die Befolgung der islamischen Anweisungen auf dem jeweiligen Gebiet. Es ist ein sehr wesentlicher und ermutigender Umstand, wenn man erkennt, dass alle diese Handlungen von Gott als Handlungen des Gottesdienstes betrachtet werden. Dies sollte das Individuum dazu führen, dass es in seinen Handlungen nach Allahs Gefallen strebt und ständig versucht, sie in dieser bestimmten Art und Weise zu tun, unabhängig davon, ob er sie vor den Augen seiner Vorgesetzten vollbringt oder nicht. Denn er wird von dem überwacht, der allwissend ist: Allah.
Dass wir bis jetzt die rituellen Formen des Gottesdienstes nicht behandelt haben, heißt nicht, dass wir ihre Wichtigkeit unterschätzen. Tatsache ist, dass die rituellen Formen des Gottesdienstes, wenn sie mit echtem Geist verrichtet werden, den Menschen moralisch und seelisch heben und ihn befähigen, seine Handlungen in allen Situationen des Lebens gemäß der Rechtleitung Gottes zu vollbringen. Unter den rituellen Formen des Gottesdienstes nimmt As-Salah (das rituelle Gebet) aus zweierlei Gründen die Schlüsselstellung ein. Erstens ist es das charakteristische Merkmal eines Gläubigen. Zweitens schützt es dadurch das Individuum vor allen Schändlichkeiten und Verderbtheiten, dass es ihm fünfmal täglich eine unmittelbare Verbindung mit seinem Schöpfer ermöglicht. Dabei erneuert es seinen Bund mit Gott und sucht Seine Rechtleitung immer wieder:
Nur Dir dienen wir, und nur bei Dir suchen wir Beistand: Leite uns recht den richtigen Weg (1:4-5)
In der Tat ist As-Salah ist die erste praktische Äußerung des Glaubens und auch die erste Grundbedingung für den Erfolg des Gläubigen:
Wohlergeht es schon den Gläubigen, denjenigen, welche in ihrem Gebet demütig sind (23:1- 2)
Dieselbe Tatsache wurde vom Propheten Muhammad (s) verschiedentlich betont: Diejenigen, die ihre Salah mit Sorgfalt und Pünktlichkeit verrichten, werden sie finden (als) ein Licht, einen Beweis für ihren Glauben und eine Ursache für ihre Erlösung am Tage des Gerichtes.
Nach der Salah ist Az-Zakat eine wichtige Säule des Islam. Im Koran werden Salah und Zakat meistens zusammen erwähnt. Wie die Salah ist auch die Zakat eine Äußerung des Glaubens, die bezeugt, dass Gott der einzige Besitzer aller Dinge im Universum ist, und was die Menschen haben ein Treubesitz in ihren Händen ist, über den Gott sie zu Treuhändern macht, damit sie ihn ausgeben, wie Gott es vorgeschrieben hat:
Glaubt an Allah und Seinen Gesandten, und gebt her von dem, wovon Er euch Nachfolger darin gemacht hat... (57:7)
In dieser Hinsicht ist die Zakat eine Handlung der Frömmigkeit, die, wie die Salah, den Gläubigen näher zu Gott bringt.
Außerdem ist die Zakat ein Mittel der Vermögensverteilung auf eine Art und Weise, welche die Unterschiede zwischen den Klassen und Gruppen reduziert. Sie leistet einen deutlichen Beitrag zur sozialen Stabilität. Durch das Reinigen der Seele der Reichen von Selbstsucht und der Seelen der Armen von Neid und Groll gegen die Gesellschaft, schließt die Zakat die Wege zum Klassenhass und macht es möglich, dass die Quelle der Brüderlichkeit und Solidarität hervorströmt. Solche Stabilität ist nicht bloß auf die persönlichen Gefühle der Reichen gegründet: sie steht auf fest aufgebautem Recht, das, falls es von den Reichen ignoriert werden sollte, wenn nötig gewaltsam durchgesetzt wird.
Der Sijam (Das Fasten tagsüber während des Monats Ramadan) ist eine andere Säule des Islam. Die Hauptfunktion des Sijam ist, die Muslime „von innen“ zu reinigen, wie andere Aspekte der Scharia es „von außen" tun. Durch solche Reinigung geht er ein auf das, was wahr und gut ist, und hält sich vom Falschen und Bösen fern. Darauf weist die folgende koranische Vers hin:
Ihr, die glauben, euch ist das Fasten vorgeschrieben wie es denen vorgeschrieben war, die vor euch waren, damit ihr vielleicht gottesfürchtig werdet. (2:183)
In einem authentischen hadith (Überlieferung von Aussprüchen) berichtet der Prophet Muhammad (s), dass Allah vom fastenden Menschen spricht und sagt: „Er verzichtet auf das Essen, das Trinken und das Befriedigen seiner sexuellen Leidenschaften wegen Mir." Daher wird seine Belohnung der göttlichen Freigebigkeit entsprechen.
Das Fasten erweckt das Gewissen des Einzelnen und gibt ihm die Möglichkeit des gleichzeitigen gemeinsamen Gottesdienstes aller in der Gesellschaft, was jedem Einzelnen weitere Kraft gibt. Darüber hinaus bietet das Fasten dem überarbeiteten menschlichen Körper eine Zwangspause für die Dauer eines ganzen Monats. Gleichermaßen erinnert das Fasten den Einzelnen an diejenigen, die während des Jahres oder während des Lebens von der Befriedigung der Grundbedürfnisse ausgeschlossen sind. Es lässt ihn das Leiden anderer wenig begüterter Brüder im Islam erfahren, was in ihm den Sinn für Mitgefühl und Freundlichkeit ihnen gegenüber fördert.
Zum Schluss kommen wir zum Hadsch (Pilgerfahrt zum Haus Gottes in Mekka). Als einer der Grundpfeiler des Islam betont er eine einzigartige Einheit der Muslime auf der ganzen Erde, indem er alle Unterschiede zerstreut. Muslime aus allen Gegenden der Erde, die gleiche Kleidung tragend, antworten auf den Ruf zum Hadsch in einer Stimme und Sprache: Labbaik Allahumma Labaik (Hier bin ich zu Deinen Diensten Oh Allah, Deinem Ruf folgend). Der Hadsch ist eine Übung strenger Selbstbeherrschung und Kontrolle, wobei nicht nur die Vorschriften der Verlaufs der Pilgerfahrt befolgt werden, sondern sogar das Leben von Pflanzen und Vögeln unverletzlich wird, so dass alles in Sicherheit lebt:
So ist dies, und wer die Heiligtümer Allahs hochachtet, für den ist es gut bei seinem Herren... (22:30) So ist dies, und Wer die heiligen Riten Allahs hochachtet, so ist das ja etwas von der Gottesfurcht im Herzen. (22:32)
Die Pilgerfahrt gibt allen Muslimen der Erde die Gelegenheit, sich jährlich in einer großen Versammlung zu treffen. Zeit und Ort dieser Zusammenkunft wurden von dem Einen Gott, dem Erhabenen Schöpfer, festgesetzt. Die Einladung für die Teilnahme gilt für jeden Muslim. Niemand hat die Macht, irgendjemanden zurückzuweisen. Jedem teilnehmenden Muslim ist volle Sicherheit und Freiheit garantiert, solange nicht er selbst diese Sicherheit verletzt.
So bildet der Gottesdienst im Islam, ob rituell oder nicht rituell, den Menschen auf eine solche Art aus, dass er seinen Schöpfer liebt und dabei einen unnachgiebigen Willen und Sinn dafür gewinnt, alles an Übel und Unterdrückung in der menschlichen Gesellschaft zu beseitigen, und Gottes Wort als das einzig gültige für alle Belange des menschlichen Daseins auf Erden zu machen.
Die Koranübersetzung stammt aus: Der Koran, Ahmad von Denffer, 1996 Islamisches Zentrum München
Erläuterungen für Abkürzungen:
(s) arab. Abk. für: [Gottes] Segen und [Sein] Friede seien auf ihm.